Gunnar Leue – You’ll Never Sing Alone [Buchrezension] (Ventil Verlag, 11.08.2023)

The Farm haben mit “All Together Now” 1991 einen Song geschaffen, dessen Bedeutung mir bisher verborgen geblieben war. Wer genauer hinhört erkennt nämlich den Tiefgang und die krasse Bedeutung dieses 90er-Hits, für welchen die Briten zu recht abgefeiert worden sind. Es handelte sich nämlich um ein Lied über ein Fussballspiel im Schützengraben 1914, als englische und deutsche Soldaten dank des mitgebrachten Fussballs eines schottischen Soldaten ein Match im Niemendsland in Flandern begannen und somit den Krieg für eine kurze Zeit vergessen machten.

Die Menschheit ist nicht schlauer geworden, denn Kriege gibt es auch über 100 Jahre später immer noch. Aber auf der anderen Seite fliegt eben auch das runde Leder immer noch jedes Wochenende quer durch die Strafräume der Stadien und Ascheplätze quer über den Erdball und verbindet somit regelmäßig verschiedenste Menschen weltweit.

Was das ganze jetzt mit unserem Magazin zu tun hat? Wir sind doch nicht der Kicker, oder das 11FREUNDE-Magazin!

Ganz einfach, der Journalist Gunnar Leue (u. a. taz, Galore, Das Magazin, 11FREUNDE, radioeins) hat erst vor kurzem ein Buch heraus gebracht und hierin die Kulturgeschichte des Fussballsounds be- und durchleuchtet. Unter dem Titel “You’ll Never Sing Alone – Wie Musik in den Fußball kam” hat er auf über 300 Seiten seine umfangreichen Notizen chronologisch geordnet, mit vielen Bildbeispielen aus den vergangene Jahrzehnten verfeinert und somit quasi ein kleines Lexikon der Fussballsounds geschaffen.

Von den Anfängen des Fussballs, wo noch Blaskapellen und schräge Vögel die Partien musikalisch begleiteten, über die Zeiten, wo Vereine eigene Hymnen komponieren ließen, bis hin in die wilden 60er, wo zum Beispiel Gerry and the Pacemakers mit “You´ll never walk alone” eine Fussball-Hymne für die Ewigkeit gelang.

Und jetzt Mal zugegeben, wenn der Song dann mit den Worten “When you walk through a storm, Hold your head up high, And don′t be afraid of the dark.” beginnt und von tausenden fussballbegeisterten Verrückten im Stadion mitgesungen wird, dann ist das schon etwas ganz besonderes – sage ich jetzt Mal durch meine rosarote Fussball-Brille. Fussball-Hasser werden das natürlich komplett anders sehen.

Inhaltlich sortiert sich das Machwerk in verschiedene “Epochen”, so beschäftigt sich Leue mit dem frühen Miteinander von Fußball und Gesang, welches Mitte des vorletzten Jahrhunderts begann und mit dem Ende des ersten Weltkriegs in den Massenwahn und dem Starkult mündete, der mit dem Ende des zweiten Weltkriegs sein Ende fand. Die darauf folgende Zeit bis in die 60er beschreibt die Anfänge der globalen Fussballkultur, welche dann in die Fußballpopwelle in Stadien und Plattenläden über ging. Unter der Rubrik Fußballunterhaltung around the clock (ich sage nur Udo Lindenberg mit seinem “Bodo Ballermann“) geht es dann um die Zeit, wo sich selbst die Spieler dazu bewegt fühlten, auf einmal so schlecht wie möglich im Kollektiv ins Mikrofon zu trällern.

Spätestens zum Ende der 80er bzw. zu Beginn der 90er Jahre nahm dann alles total übertrieben Formen an und es ging nun vielmehr um Inszenierung und Entertainisierung all over – ich erinnere hier gerne noch an Die Toten Hosen, die damals ihnen Fortuna-Düsseldorf Kicker Anthony Baffoe mitfinanzierten, oder an die Sportfreunde Stiller Fussball-Hymne “’54, ’74, ’90, 2006“, die zwar extrem erfolgreich war und die Jungs auf der Karriereleiter ein gutes Stück nach oben gehieft hat, aber Peter, Flo und Rüde nicht nur positive Kritiken eingebracht hat. Ich persönlich war spätestens nach dem 2010er-Remake dann endgültig bedient und das Trauma hält bei mir bis heute an – Trigger gefällig?

Bitte sehr, gerne geschehen…


Spätestens seit Einführung der Smartphones zur Mitte der Nuller-Jahre besteht mittlerweile der absolute Kommerzoverkill – jede kleine Melodie, jeder Song, jeder Schnipsel… quasi alles wird verwurstet und ausgeschlachtet. Ultras übernehmen mit ihren Choreografien und Pyros die Stadien, alles sieht aus wie eine riesengroße Party – der Fussball an sich kommt da oftmals viel zu kurz.

Mittlerweile hat jeder Club seit vielen Jahren seine eigene dämliche Hymne – vor, während und nach jedem Spiel wird man pausenlos von mindestens ebenso dämlichen (von Fans oder professionellen Künstlern umgedichteten) Songs begleitet – alles wirkt so herrlich inszeniert und unecht, genaus wie der moderne Fussball an sich. Alles ist nur noch Hochglanz und Bling-Bling… wieso sollten dann bitte die Fussball-Songs noch großen Wert (außer der kurzen Unterhaltung mit auch bei 3 Promille noch leicht zu lernenden Texten) haben.

Lässt man mal den Kommerz des modernen Fussballs weg (ich meine, wenn Spieler für hunderte von Millionen transferiert werden und Fans auf der anderen Seite Unsummen für Tickets bzw. Merch ausgeben müssen, dann stimmt aber so einiges nicht mehr!) und sieht man auch über die Chaoten hinweg, die den Ballsport auf und neben dem Platz gelegentlich immer wieder in Verruf bringen, dann ist Fussball (neben der Musik natürlich) an und für sich doch immer noch eine der schönsten Nebensachen der Welt, oder nicht?

Als bekennender St. Pauli-Fan bin ich sehr leidensfähig, was auch die unsagbar schlechten Fussball-Songs die es gibt mit einbezieht. Für die Stimmung im Stadion sind die Lieder oftmals förderlich, für die Ohren nicht immer – naja, zumindest kann man sich das ganze im Ernstfall ja dann immer noch schön trinken, oder?!

 

Ach so, noch was… niemand geringerer als der liebe Thees Uhlmann hat hier ein paar schicke einleitende Worte beigesteuert – und selbst er als eingefleischte St. Pauli-Fan hat vor Jahren schon seine eigene Fussball-Hymne geschrieben…

In diesem Sinne… “You´ll never sing alone”!

 

Ventil Verlag
ca. 320 Seiten
Hardcover, farbig

VÖ: 11. August 2023

 

Hier geht´s zur Verlags-Seite und hier gibt es ein paar Infos zu Gunnar Leue.