Großstadtgeflüster: “Es ist einfach so wunderschön bunt, divers, beknackt” – Interview

Seit 16.08.2019 ist es nun raus, das neue und langersehnte Album “Trips & Ticks” von Großstadtgeflüster, die ihren Musikstil als “kompliziert” bezeichnen. Irgendwo zwischen Hip Hop, Elektro und Ekstase und die vielleicht nettere Schwester von Deichkind.

Wir durften uns zu einem kleinen Plausch mit dem sympathischen Berliner Trio treffen, welches eigentlich schon früher geplant war. Aber manchmal geht es halt mit dem Teufel zu. Doch lest selbst..

 


Mensch, da seid ihr ja! Schön, dass ihr euch ein bisschen Zeit für uns nehmt. Ich bin der Addy von handwritten-mag.de. Unser Meeting mussten wir ja etwas verschieben, da es ein Malheur mit eurem Musikvideo gab. Könnt, dürft oder wollt ihr erzählen, was da passiert ist? 

Jen von Großstadtgeflüster: Hi Addy, relativ unspektakulär. Es war ein irreparables Speicherkarten-Malheur, das dazu führte, dass ein halber Drehtag im Orbit verschollen gegangen ist und nachgeholt werden musste.

OK, dann ist ja alles halb so wild! Nun ist euer neues Album „Trips & Ticks“ frisch geschlüpft und hat die ersten Tage auf dem Buckel. Ich will nicht rumschleimen, aber ich bin wirklich begeistert und höre es gern! Wie ist das bisherige Feedback zur neuen Platte, das euch so erreicht?

Raphael von Großstadtgeflüster: Von unseren Leuten kriegen wir nur Liebe eigentlich und damit ist die Mission auch schon erfüllt. Streng genommen ist sie schon vorher erfüllt, da wir nach 16 Bandjahren nur zu gut wissen, dass man nicht jedem gefallen kann, dass Geschmäcker unterschiedlich sind, dass ein ästhetischer Kurswechsel die einen überfordert und Stagnation die anderen langweilt. Also ist das einzige Ziel, dass wir selbst zufrieden sind und das wussten wir ja bereits. Sonst hätten wir es noch nicht rausgebracht, da wir autark arbeiten und uns an kein von oben vorgegebenes Timing halten müssen. Aber klar, dass es den Peoples gefällt, ist schön und fühlt sich gut an.

Jen: Schleim gerne weiter, wenn mir jemand Honig ums Maul schmiert, kann ich Face2Face zwar überhaupt nicht damit umgehen, drehe mich dann aber weg und lecke ihn mir von den Lippen. Lecker!

Guten Appetit! (lacht) Mit dem Opener „Feierabend“ ist euch meiner Meinung nach ein echter – wie sagt man so schön – „Kracher“ gelungen. Nach einem Scheißtag auf Arbeit oder im Büro das Teil auf dem Nachhauseweg laut auf die Ohren und der Abend ist gerettet. Was baut euch auf oder womit baut ihr euch auf, wenn ihr mal mit dem falschen Fuß aufgestanden seid?

Raphael: Mit einem schönen warmen Schaumbad aus Selbstmitleid. Ne, ernsthaft, gibt Kacktage, gehen vorbei, Leben geht weiter. Achselzucken, sich in Sarkasmus flüchten, alles zerdenken, sich benebeln, heulen, lachen, rumschreien… alles erlaubt, alles sinnlos, alles gut.

Jen: Motzen, meckern, grummeln, schwarzer Humor und genüsslich einen durchziehen. Manchmal kollektiv, manchmal lieber von innen die Tür abschließen. Aber was Du sagst, fühle ich. Ich höre an einem Scheißtag auch sehr gerne Musiken oder schaue Filme, die mich entweder von der Scheißheit ablenken oder darin bestätigen, dass eh alles zu spät ist.

Sag mal, kennt man das Fanfaren-Sample aus dem Song „Feierabend“ irgendwo her? Ich bilde mir immer ein, dass ich das schon mal gehört habe. Oder habt ihr da selbst in die Tasten gehauen?

Raphael: Ham wa uns selbst ausgedacht, aber sollte natürlich eine Klischeewirkung bedienen, heldenhaft, pathetisch, siegesgewiss und ‘n bisschen bescheuert. Als Inspiration stand die Machart von ein paar Klassikern Pate. Als würde Indiana Jones durch den Jurassic Park zurück in die Zukunft fliegen und dabei mit der rechten Hand die olympische Fackel tragen und mit der linken die Midi-Trompete von “Final Countdown” spielen.

Ich bin auf jeden Fall mitgeflogen. Genau das Gefühl habt ihr in mir geweckt! In Song Nummer 2 „Freunde“ geht ihr hart feiern und in Song Nummer 3 eures Albums wird auf der Couch abgegammelt. Wessen Leben werden hier besungen? Sind es eigene Erfahrungen?

Raphael: Absolut, wobei unsere Songs selten eine immer anwendbare Lebensphilosophie hergeben, sondern eher kleine Helferlein für bestimmte Momente sind. Wenn dir ein Song helfen soll mal kurz auf Pause zu drücken oder ‘n bisschen Luft aus dem Reifen zu lassen, macht es keinen Sinn zu versuchen immer die ganze Komplexität unserer Existenz aufzudröseln.

Jen: Ja! Fast genauso nur ein bisschen anders. Ich gehe z. B. gar nicht ins Berghain.

Die letzte Zeile in „Freunde“ („Ob mich irgendjemand vermisst, wenn ich morgen nicht mehr aufwache“) klingt hart. Ich höre oft, dass man in Berlin gut mit Leuten feiern kann, aber diese Leute oft nie richtige Freunde werden, da viele Berliner Freundschaften, gerade als Zugezogener, sehr oberflächlig verlaufen. Wie ist hier Raphaels Erfahrung als gebürtiger Bremer?

Raphael: Ja, kann schon sein. Aber zwischenmenschliche Beziehungen sind auch im nüchternen Zustand nicht frei von den Giften die unsere menschliche Natur mitbringt. Eifersucht, Neid, Geliebt-werden-wollen, einen Haufen Ängste und unerfüllbare Erwartungen. Jeder trägt ein individuelles Paket aus „Shizzl“ mit sich rum und wir sind wahrscheinlich alle viel weniger frei und echt als wir denken. Aber wir sind trotzdem liebenswert und man kann auch jemand „druff“ genau die Umarmung geben, die er oder sie gerade braucht und man kann auch in einem vermeintlich zugewandten reflektierten Gespräch einen engen Menschen tief im Kern verletzen.

OK, jetzt mal etwas weniger deep und Butter bei die Fische: Wer von euch ist die größte Couchpotatoe?

Jen: ICH! ICH! ICH!

Die Antwort war mir irgendwie schon vor der Frage klar. Ich wollte es nur nochmal hören. (lacht) Ich finde es wichtig, dass man sich das Kind im Inneren bewahrt. Was ist euer Jungbrunnen?

Jen: Ich! Ok, ne ernsthaft, das Kind im Inneren is’ eh da. Wir sind der gleiche Mensch, nur auf der Skala der eigenen Erfahrungen und Vergänglichkeit ein Stück weiter Richtung Ende gerutscht. Dieser Begriff des Erwachsenseins ist mit so viel Ein- und Ausschlusskriterien belegt. Ich bin nun mal erwachsen, auch wenn ich mit einem Schnuller und einer Windel über die Kreuzung robbe. Sich ein bisschen von dem kindlichen Trotz zu bewahren, kann Spaß machen. Sich gelegentlich unsterblich fühlen, sehr befreiend wirken. Und da Freiheit und Kontrolle eh Illusionen, komplex und nicht erfüllbare Begriffe sind, kann man auf dem Weg ins Nirwana doch ein paar Ausschläge wagen, damit man nicht vergisst sich lebendig zu fühlen, anstatt zu versuchen in aller Konsequenz und Perfektion irgendwann aufgeräumt, gesund und schön ins Gras zu beißen.

Fazit, ich habe keinen Jungbrunnen, weil ich nicht den Anspruch habe mich ein Leben lang zu versuchen jung zu bleiben, sondern meine Skala so gut es geht auszukosten. Das beinhaltet Neugierde, Trotz, das Bedürfnis geliebt zu werden und leckere Dinge die einem langfristig die Zähne kaputt machen, was jetzt aber einfach keine Geige spielt. Wie das bei Kindern eben so ist.

Raphael: Das was Jen sagt…

In „Skalitzer Straße“ besingt ihr das Verkerhschaos. Was ist euer Lieblingstransportmittel? Auto, U-Bahn oder Tram? Ich persönlich verabscheue ja E-Scooter, was ist eure Meinung dazu?

Jen: E-Scooter, so wie es gerade aussieht, werden die Dinger einen Bürgersteigkrieg auslösen. Die, die drauf sind haben Monster-Spaß und alle anderen Monster-Hass. Gute Vorraussetzung für den Austausch körperlicher Gewaltakte. Ich beobachte das mal und springe zur Seite. Mein Lieblingstransportmittel sind meine Füße. Ich liebe Spaziergänge oder einfach irgendwo hin zu laufen, gerne an fremden Orte. Da bleibt die Bewegungsunschärfe weg und ich sehe immer wo ich gerade bin. Damit will ich nicht sagen, dass der Weg das Ziel ist oder so ‘n Scheiß. Ich bin ja kein Apotheken-Kalender.

In „Meine Mama“ wollt ihr euch ja irgendwie nix sagen lassen. Was ist denn euer Lieblingsschimpfwort?

Jen: Kackbratze, Ficker, Vogel, Arsch, Scheiße. Ich mag es einfach reduziert funktional und zeitlos. So Bauhaus-mäßig halt.

Euer Lieblingssong auf dem Album? Oder gibt es einen Song, der euch besonders wichtig ist?

Jen: Das ist schwer, bei neuen Platten habe ich erstmal alle gleich lieb. Aber neben denen, die wir ja schon gezeigt haben, finde ich die „Skalitzer Straße“ und „Diadem“ auf jeden Fall zeigenswert!

Raphael: Es gibt bei uns bei jedem einzelnen Lied einen zwingenden Grund, warum wir das genau so machen wollten. Und wenn ein Lied von uns fertig ist, ist es meistens ein sperriges kleines Unikat. Wenn wir dann darüber nachdenken, was wir stellvertretend fürs ganze Album als Single zeigen wollen, ist das immer ein Riesendrama, weil beim Vorspielen im Freundeskreis meistens jeder Song schon mal als persönlicher Favorit gepickt wurde und von jemand anderem als verzichtbarste Nummer beurteilt wurde. Marktforschung klappt also nicht. Deshalb muss man ein Album von uns komplett hören, wenn man seinen Lieblingssong finden will und es ist total ok, wenn es im Gesamten nicht allen gefällt. Eh ok. Dafür machen wir das ja! Hoch lebe das Individuum!

So sieht es aus! Man muss ja auch nicht immer das machen, was andere einem sagen und sich anpassen. Apropros: In „Anpassungsstörung“ wird auch eben diese besungen. Hattet ihr vor dem Projekt Großstadtgeflüster alle 9to5-Jobs? Und was gefällt euch lieber – Regelarbeitszeiten oder „Do what you want“ und das Musikerleben? Was macht ihr, wenn mal kein Album aufgenommen wird oder ihr nicht auf Tour seid?

Jen: Mittlerweile leben wir alle vom Musikmachen. Wenn nicht für uns, schreiben und/oder produzieren wir für und mit anderen. Bevor das so war, war das bei allen unterschiedlich. Ich hatte diverse Jobs. Saß auch in Agenturen, ein kurzes Vergnügen. Und natürlich ganz klassisch Gastro. Bier zapfen, Wein und Essen servieren. Mein erster Job war tatsächlich Medikamente auszufahren. Sind auch alle wann und wo sie sollten gelandet.

Wir unterstützen und organisieren das „Wir sind lauter“-Benefizkonzert im Lüttens Hof, bekannt aus dem Kliemannsland, deren Spenden bislang unter anderem in die Seenotrettung SOS Mediterranee und Sea Watch gingen. Ist euch Engagement wichtig und wofür setzt ihr euch ein?

Jen: Das ist spitze, dass ihr das macht! Was wäre die Menschheit ohne die, die sich engagieren. Stimmen werden halt nur gehört wenn sie laut sind und wenn Menschen keine Stimme zugesprochen wird muss man ihnen eine geben bzw ihren Stimmen zu Gehör verhelfen. Wir haben hier einen Haufen Privilegien, die nicht selbstverständlich sind, sich aber für viele so anfühlen. Es ist purer Zufall wann und wo wir geboren werden und ich denke, wenn man sich bewusst macht, was man alles hat, wird einem schnell klar wie ungerecht es auf dieser Welt zugeht. Umso wichtiger ist es, regelmäßig Kräfte zu bündeln, die auf diese Ungerechtigkeit, die zu nicht unwesentlichen Teilen auf Ausbeutung beruht aufmerksam zu machen und Menschen dafür zu sensibilisieren. Wenn dann Menschen sogar Pro-Aktiv vor Ort so viel riskieren um ein wenig zu bewirken, muss das eigentlich von allen Seiten Unterstützung finden. Und wenn wir durch unsere Anwesenheit, unsere Stimme, Spende, Aufruf oder Einsatz dazu beitragen können, tun wir das so oft und gut es geht. Das macht uns weder zu Helden, noch Rettern, noch Kämpfern. Wir sind von so vielem nicht betroffen und es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, sich seiner Privilegien bewusst zu sein und nicht Angst davor haben, dass einem was weggenommen wird, was einem vermeintlich zusteht, sondern etwas von dem abzugeben, was einem in den Schoß gelegt wurde und wovon man genug hat. Ich konnte zur Schule gehen, draußen spielen, kenne keinen Krieg, hatte nie Hunger, trinke Wasser aus dem Hahn, kann zum Arzt, wenn es mir schlecht geht und habe den unfassbaren Luxus mich um Dinge wie Selbstverwirklichung zu kümmern. Hab ich einfach vom Universum geschenkt bekommen.

Genauso sehe ich das auch. Hast du toll gesagt! Themawechsel, denn wir kommen leider schon zum Schluss. Jen, du hast dir im Frühling auf Tour derbe den Fuß verletzt. Wat war da denn los? Ein Vögelchen zwitscherte mir, dass dein Arzt dir nun scheinbar verboten hat so viel rumzuhüpfen. Klappt das?

Jen: Nein. Ich hüpfe halt nur auf einem Bein und nicht mehr 5 Meter hoch. Vorderes Kreuzband. Bekomme im November voraussichtlich ein neues.

Auha. Toi toi toi! Und im März/April 2020 geht es endlich wieder auf Tour! Welche Stadt eskaliert am besten?

Jen: Das wird sich zeigen!

Raphael: Wird überall toll. Ich liebe, liebe, liebe unser Publikum! Es ist einfach so wunderschön bunt, divers, beknackt. Kommt alle, wie ihr seid und vermehrt euch.

Werde ich auf jeden Fall tun! Vielen Dank, dass ihr mir Frage und Antwort standet. Ich hatte großen Spaß! Ganz, ganz, ganz viel Erfolg und Spaß auf Tour wünsche ich euch! Ihr reißt die Hütten ab!

 

Feierabend” vom neuen AlbumTrips & Ticks

Meine Couch” vom neuen AlbumTrips & Ticks


Grossstadtgeflüster
„Trips&Ticks“-Tour 2020

26.03.20 – Bremen, Schlachthof
27.03.20 – Münster, Skaters Palace
03.04.20 – Erlangen, E-Werk
04.04.20 – Karlsruhe, Tollhaus
16.04.20 – Leipzig, Täubchenthal
17.04.20 – Hannover, Capitol
18.04.20 – Berlin, Columbiahalle
23.04.20 – München, Muffathalle
24.04.20 – Oberhausen, Turbinenhalle
25.04.20 – Wiesbaden, Schlachthof
01.05.20 – Hamburg, Docks
07.05.20 – Linz, Posthof
08.05.20 – Wien, Arena
09.05.20 – Graz, PPC