Amenra – Mass VI (Neurot Recordings, 20.10.2017)

„Verdammt, ich kann nicht mehr…“ – dieser Gedanke überkommt einen nicht nur einmal, wenn man sich in „Mass VI“ der Belgier Amenra stürzt. Dieses Album ist derart intensiv, dass man sich nach jedem einzelnen Stück wie durchgekaut und ausgespuckt fühlt. Dagegen klingen sogar Celeste brav. Man wird Zeuge einer Messe aus Lärm, Verzweiflung, Wut, ja, und irgendwo findet man auch einen Hauch von Schönheit darin. Aber im Ganzen kommt das Hören des Albums einer Katharsis gleich. Man fühlt sich geläutert, wenn man es durch diesen 40-minütigen Trip schafft.

Das ist auch durchaus so beabsichtigt und es wird einem auch klar, wenn man sich vor Augen hält, dass Texte und Musik von religiösen Metaphern und einer Art von Gläubigkeit durchzogen sind. Die Band opfert sich Jesus-gleich der Musik. So klingt es zumindest. Letztlich ist es auch so. Wer es genau wissen möchte, führe sich das Video zum kürzlich stattgefundenen Release-Konzert des Albums (siehe unten) zu Gemüte. Spätestens da merkt man: Die Herren meinen es verdammt ernst!

Amenra spielen garstige Klagelieder. Verpackt in einen ungehobelten, wilden Sound zwischen Doom, Sludge und Postrock. Repetitive Riffs bestimmen das Bild, anklingende Melodien und feine Texturen drohen im massiven Klangwall unterzugehen. Über allem thront der „Gesang“, der selten ebensolcher ist, sondern unheimliches, einer Folter gleichkommendes Geschrei. Hat man dieses aber erst einmal verdaut, fasziniert die Band mit ihren Stücken ungemein.

Dass sich die Band die letzten fünf Jahre seit ihrer „Mass V“ weiterentwickelt hat, hört man recht bald. Die postrockigen, zurückgenommenen Parts kommen atmosphärischer und vor allem klingt der klare, ruhige Gesang Colin H. Van Eeckhouts wesentlich selbstsicherer, kontrollierter und wird dementsprechend öfter und effektvoller eingesetzt. „A Solitary Reign“ wirkt gar wie ein schizophrener „Klargesang-Schrei-Kanon“, in der Mann um sich selbst kreist. Derweil zaubert die Band mit irrlichternden Leadgitarren etwas, an dem man sich im lauten Getöse festkrallen kann. Wenn es nicht niederschmetternd heavy ist, dann wird man von einer angenehmen Melancholie umhüllt.

Die Stücke auf „Mass VI“ brauchen ihre Zeit. Abgesehen von den beiden Zwischenspielen „Edelkroone“ und „Spijt“ sind sie jeweils zwischen 9 und rund 11 Minuten lang. Und man möchte keine Sekunde davon missen. Die repetitiven Riffs und die stapfenden Rhythmen sorgen für etwas Hypnotisches, die zart aufknospenden Melodien für Menschlichkeit und Dynamik. Produzent Billy Anderson hat dabei gute Arbeit geleistet das Ungehobelte der Band in die richtigen Bahnen zu lenken. Das Album besitzt Tiefe und stellt rein subjektiv die Krone des Schaffens von Amenra dar.

Vielen Dank für dieses außerordentliche Klangerlebnis!

Trackliste:
1. Children of the Eye
2. Edelkroone
3. Plus Près de Toi (Closer to You)
4. Spijt
5. A Solitary Reign
6. Diaken

4.5