Kammerflimmer Kollektief – Schemen (Karlrecords, 28.04.2023)

Das Projekt wurde 1996 von Thomas Weber gegründet. 1999 wurde aus dem Ein-Mann-Projekt eine sechsköpfige Band. Inzwischen ist das Kammeflimmer Kollektief seit langer Zeit auf das Trio Heike Aumüller, Johannes Frisch und Thomas Weber als feste Besetzung geschrumpft. Für die Alben und Liveauftritte verstärken sis ich jedoch in der Regel noch um einen Schlagzeuger. Für das neue Album ist dies Christopher »Giga« Brunner. Ich persönlich habe die Band mit Ihrem 2010er Album „Wilding“ kennen und lieben gelernt. Auf diesem hatten sie ihren sehr eigenen Sound perfektioniert und zu einem eigentlich albumlangen Stück aus Ambient, Postrock und Experimentalmusik ausgearbeitet. Dies erweiterten sie in den Folgejahren mit den Alben „Désarroi“ und “Teufelskamin”, und nebenbei gründeten sie mit Diethmar Darth The Schwatzenbach, eine Band mit der sie ihren Sound zu einem mit psychedelischen Klängen verhuschten, songorientierten Variante weiterentwickelten, ohne ihren Hintergrund und ihre Experimentierfreude auch nur einen Deut zu verleugnen.

2018 folgte dann das raue und andersartige “There Are Actions Which We Have Neglected and Which Never Cease to Call Us”, auf dem die ambienten Klänge leider nahezu ganz verschwunden waren. Und ich muss zugeben, damit bin ich bis heute nicht so recht warm geworden.

Nun erscheint nach einer fast 5-jährigen Studio-Schaffenspause endlich mit „Schemen“ ein neues Album des Trios. Das Auflegen beinhaltete bei mir eine ebenso große Vorfreude wie auch Angst.

Jedoch packen mich direkt die ersten Takte und Melodien von „Erstes Kapitel“ und nehmen mich direkt mit auf die wunderbar verschrobene Reise des Trios. Da sind sie wieder, die wabernden elektronischen Sounds, das Postrock-Schlagzeug und diese unwiderstehliche Melodie. Im Untergrund passiert eine Menge, doch die 8-minütige Atmosphäre zeigt die Band kompositorisch wie instrumental voll auf der Höhe. Das „Zweite Kapitel“ steuert dann stark dagegen, denn hier gibt es zerfaserte Instrumente, freejazziges Schlagzeug, schrille Gitarrenklänge, die auch mal in epischen Münden, aber keine offensichtlichen Ambientsounds und auch keine leitende Melodie – ja, Kammerflimmer Kollektief goes Contemporary. Aber das Ganze wird ambitioniert und nicht überambitioniert geboten und setzt so einen guten Kontrast zum ersten Stück. „Drittes Kapitel“ vermischt dann beide Welten. Die unwiderstehlichen Kollektief-Melodien lassen den Hörer träumen, das Tempo ist etwas höher, was auch schon ahnen lässt, dass sich das Einleitungsbild ändern wird, was dann auch mit schroffen Contemporary-Sounds passiert. Aber auch hier wird das kurz und knackig angeboten, dreht sich wieder ins melodische und passt einfach.

In „Viertes Kapitel“ geht es ähnlich weiter, munter mischen sich psychedelische und kontemporäre Klänge in das bekannte Kammerflimmer-Universum. Nach dem kurzen Interlude „Fünftes Kapitel“, welches kontemporären Krach bietet, folgt mit „sechstes Kapitel“ ein sehr verhuschtes Ambientstück mit etwas höherem Tempo. Perlende Gitarren schälen sich aus den schummerigen Elektrosounds und der im Kammerflimmer-Kollektief-Klangomnipräsente Basssound treibt die Mischung aus Psychedelik, Jazz und Postrock voran. Damit ist das Album auch leider fast schon beendet, denn das vorletzte „siebente Kapitel“ bringt nochmal kontemporäre Klänge in eine düstere Ambientlandschaft und das insgesamt gar nicht so dunkle Album erhält hier einen bedrohlichen und düsteren Dreh. Das abschließende „achte Kapitel“ ist ein sehr kurzer Ausklang des insgesamt leider nur knapp 36 Minuten langen Werks. Ein kleines, jazziges Outro im Bandsound.

Zwei Punkte sind für mich festzustellen. Erster Punkt: Das Kollektief ist wieder da und breitet seine musikalischen Visionen wieder wunderbar aus. Zweiter Punkt: Das Kollektief, das schon immer experimentell war, entwickelt sich ein Stück hin zur Contemporary Music, was gut zu ihm passt und zum Glück meisterlich in den Kollektiefsound eingebaut wird.

Ein starkes Album.

 

face A:

  1. Erstes Kapitel [verschliffen]
  2. Zweites Kapitel [ruckartig]

face B:

  1. Drittes Kapitel [ungesagt, dann vergessen]
  2. Viertes Kapitel [bewusstseinsfrei]
  3. Fünftes Kapitel [kreuzweis]
  4. Sechstes Kapitel [herausgewunden]
  5. Siebentes Kapitel [verflochten]
  6. Letztes Kapitel [halb vermutet, halb gesehen]

 

Heike Aumüller: Harmonium, Synthesizer, Sinusgenerator
Christopher »Giga« Brunner: Schlagzeug
Johannes Frisch: Kontrabass
Thomas Weber: Elektrische Gitarre, Schleifen, Rückkopplungen

http://www.kammerflimmer.com/
https://de.wikipedia.org/wiki/Kammerflimmer_Kollektief
https://www.discogs.com/de/artist/38153-Kammerflimmer-Kollektief
https://karlrecords.bandcamp.com/album/schemen

4.6