Musik hat die fantastische Eigenschaft, unfassbar unberechenbar zu sein. So ein Fall ist Jule. Bei all der Musik, die ich sonst so höre, kommt es nicht oft vor, dass sie mich innerhalb eines Songs mit der Wucht eines Vorschlaghammers trifft und dabei so berührt, dass das Herz in tausend Stücke zerfetzt wird, nur um es dann Stück für Stück wieder zusammenzusetzen. Dabei hat Jule gerade erst eine EP mit sechs Songs („Im Regio weinen“) veröffentlicht. Aber bevor meine Begeisterung an dieser Stelle überhandnimmt, lassen wir Jule selbst zu Wort kommen.
Kannst du uns etwas über deinen musikalischen Werdegang erzählen? Wie bist du zur Musik gekommen?
Musik war für mich immer ein Weg, Gefühle zu verarbeiten. Ich habe früh mit dem Schreiben von Songtexten angefangen, weil Worte für mich die greifbarste Art waren, auszudrücken, was ich fühle. Um mich herum war früher überall Musik, die Freunde meiner großen Schwester hatten Bands, haben selbst Texte geschrieben und mich früh geprägt. Meine ersten Songs waren akustisch, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass die E-Gitarre meine Texte auf eine neue, intensivere Ebene bringt. Sie erlaubt mir, Melancholie und Wut gleichermaßen zu transportieren.
Statt Akustikgitarre spielst du E-Gitarre, was einen ganz anderen Vibe erzeugt als klassisches Singer-Songwritertum. Schreibst du deine Songs auch auf der E-Gitarre?
Manchmal ja, aber es kommt darauf an. Oft beginne ich Songs ganz intuitiv – manchmal auf der Gitarre, manchmal nur mit Worten, die mir in den Kopf kommen. Die E-Gitarre hilft mir aber dabei, den richtigen Vibe zu finden, weil sie einfach mehr Raum für Dynamik gibt. Ich mag es, wie unterschiedlich ein Song wirken kann, je nachdem, auf welchem Instrument er entsteht.
Andere Künstler*innen brauchen Jahre, um die Reife und/oder den Mut zu haben, so emotionale Songs zu veröffentlichen. Du hast das bereits mit deiner Debüt-EP getan. Wie viel Selbsttherapie steckt in dieser EP?
Da steckt unglaublich viel von mir drin. Ich sehe meine Songs tatsächlich ein bisschen wie Tagebucheinträge. Das Schreiben hilft mir, Gedanken und Gefühle zu sortieren, und manchmal auch Dinge loszulassen. Aber es ist nicht nur Selbsttherapie – ich hoffe immer, dass sich andere Menschen in den Texten wiederfinden und sich weniger allein fühlen.
Der Song „Nähe und Distanz“ beschreibt eine innere Zerrissenheit. Was hat dich zu diesem Song inspiriert?
Der Song ist von einer Phase inspiriert, in der ich das Gefühl hatte, dass nichts so richtig zusammenpasst – weder in mir noch in meinen Beziehungen. Ich wollte Nähe, aber gleichzeitig hatte ich Angst davor. Das Schreiben dieses Songs hat mir geholfen, diese Zerrissenheit zu akzeptieren, anstatt sie zu bekämpfen.
Wie gehst du mit der Verletzlichkeit um, die das Teilen persönlicher Geschichten in deiner Musik mit sich bringt?
Das ist eine der schwierigsten Seiten für mich. Jedes Mal, wenn ich einen Song schreibe, frage ich mich: “Will ich das wirklich teilen? Was, wenn es jemand falsch versteht oder zu viel über mich weiß?” Aber ich glaube daran, dass Ehrlichkeit die Musik erst besonders macht. Es ist immer ein Risiko, sich verletzlich zu zeigen, aber genau das schafft auch Verbindung. Ich bekomme oft Nachrichten von Menschen, die sagen, dass meine Texte ihnen geholfen haben oder sie sich weniger allein fühlen – und das gibt mir Mut.
Glaubst du, dass Künstler*innen eine besondere Verantwortung haben, über mentale Gesundheit zu sprechen und das Bewusstsein dafür zu schärfen?
Ich glaube, dass es wichtig ist, ehrlich darüber zu sprechen, wie es einem geht. Künstler*innen haben eine besondere Möglichkeit, über solche Themen zu sprechen, weil sie Menschen erreichen können, die vielleicht sonst nicht darüber nachdenken würden. Musik kann Türen öffnen und einen sicheren Raum schaffen, um über mentale Gesundheit nachzudenken. Aber ich finde nicht, dass es eine Pflicht sein sollte. Jede Künstler*in sollte selbst entscheiden, wie viel er oder sie von sich preisgeben will. Für mich persönlich ist es wichtig, darüber zu sprechen, weil mentale Gesundheit ein so zentraler Teil meines Lebens ist und ich möchte zeigen, dass es okay ist, nicht immer okay zu sein.
Was siehst du als die größten Herausforderungen an, die diesbezüglich noch vor der Gesellschaft liegen?
Die größte Herausforderung ist, dass mentale Gesundheit oft immer noch nicht ernst genommen wird. Es braucht mehr Aufklärung, mehr Offenheit und vor allem weniger Stigmatisierung. Niemand sollte sich dafür schämen müssen, Hilfe zu brauchen. Und wir müssen aufhören, mentale Gesundheit als etwas zu betrachten, das in eine Schublade gehört – es betrifft uns alle.
Fotocredit: Antek Pioch