„Historisches” Interview mit Neurosis von 2007 zu „Given To The Rising“

Im Rahmen unserer Classics-Serie haben wir das 2007er-Album „Given To The Rising“ von Neurosis ausgegraben. Ein persönlicher Favorit unseres Redakteurs Mario. Mehr dazu lest ihr in seinem Review. Im Rahmen der Veröffentlichung dieses Platte führte er ein Interview mit Gitarrist/Sänger Steve Von Till, welches durchaus interessante Blicke auf die Band und ihr damals neues Werk warf. Grund genug, neben der CD auch diesen Text nochmals ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren, denn hinter der rauen Fassade, der 1985 in Oakland, Kalifornien, als Hardcore-Truppe gestarteten Band (siehe ihr Debütalbum „Pain Of Mind“) stecken erstaunlich feinfühlige und vergeistigte Menschen, die ihr ganzes Wesen der Kunst widmen. Denn als solche möchten sie ihre Musik zu verstehen wissen. Und dass Kunst nicht immer nur schön sein muss, sondern auch schmerzen darf, beweist die diese Band schon seit vielen Jahren. Dass dem längeren Gespräche nicht immer so leicht zu folgen war, liegt da wohl in der Natur der Sache.

 

Euer neues Album „Given To The Rising“ klingt beim ersten Hören härter und direkter als sein Vorgänger „The Eye Of Every Storm“. Unaufmerksame Hörer würden sagen, es geht mehr Richtung der älteren Werke zurück. Als involvierter Musiker beurteilst Du das sicher ganz anders.

Unsere Musik ist sehr ichbezogen. Es ist Musik von der wir uns angetrieben fühlen, mit der wir eine eigene Katharsis erschaffen. Was andere davon halten spielt für uns dabei keine Rolle. Ich kann es verstehen, warum Leute diese Dinge aufgrund ihres Aggressionslevels über unsere neue Platte sagen. Aber der bedächtige Hörer dürfte in der Lage sein um zu hören und zu fühlen, dass wir uns auf ein neues akustisches Territorium vorwagen – ein Stück mehr entwickelt und verwandt mit den letzten Releases, als mit den Sachen der Vergangenheit. Wir schauen nicht zurück, nur noch vorne. Wir können gar nicht anders.

Wenn man es so sieht, ist „Given to the rising“ also die logische Fortsetzung und nicht einfach ein Schritt zurück in der Art von „härtere Zeiten führen zu härterer Musik“?

Es ist der nächste Schritt auf unserer Evolutionskurve. Es entwickelte sich aus dem was wir aus „The Eye Of Every Storm“ gelernt haben. Weniger ist mehr, jede Person wird zum Teil einer einzigen Stimme. Der Prozess war vergleichbar mir „The Eye Of Every Storm“, aber das Endergebnis ist schärfer, sich selbst aushöhlend und klaustrophobisch. Unsere Musik existiert außerhalb vom momentanen Zeitgeschehen. Es handelt sich nicht um die Energie der momentanen Zeit, sondern eines ganzen Zeitalters und der emotionalen Landschaft hinter nicht nur dem Jetzt, sondern eine Betrachtung der ganzen gesammelten menschlichen Erfahrungen.

Was außer der offensichtlichen Ausrichtung unterscheidet das neue Album von seinem Vorgänger? Habt ihr euch auf einen neuen Aspekt eurer Musik konzentriert?

Wir denken nicht darüber nach woher unsere Musik kommt. Wir diskutieren nicht verbal darüber miteinander. Sie kommt nicht aus dem Kopf, sondern aus den Eingeweiden. Wir ergeben uns ihr. Jedes Mal wenn wir zusammenkommen, um neue Musik zu machen, kommen wir näher an das Zentrum, den Kern dessen was unsere Band vorantreibt. Wir werden diesen wohl nie finden, aber wir versuchen es bis zum bitteren Ende. Wenn ich es objektiv zu betrachte, würde ich sagen, dass unsere geistige Natur mit den letzten paar Alben wirklich selbstständig geworden ist.

Welche Art von Gefühl wolltet ihr mit eurer neuesten Arbeit erreichen? Oder liegt es ganz am Hörer was er oder sie darin sieht?

Wir ziehen uns heraus was wir davon brauchen. Um es noch einmal zu sagen: es ist für uns eine Art Katharsis. Etwas das wir für uns tun müssen. Um sich als Außenstehender etwas herausziehen zu können, muss man seine gemachten Erfahrungen investieren und sich mit seinen Gefühlen ganz dem Klang hingeben. Als Nebenprodukt unserer ganz persönlichen seelischen Reise lassen wir eine klingende Landkarte von den bereisten emotionalen Plätzen zurück, welche der Hörer auf seine ganz persönliche Art und Weise entdecken kann. Das halten wir für unendlich kraftvoller als jemanden eine voyeuristische Erfahrung zu geben, bei dem man das Leben eines anderen Menschen betrachtet, aber sein eigenes dabei ignoriert.

Meiner Meinung nach klang „The Eye Of Every Storm“ ein Stück kälter als euer neues Album. „Given to the rising“ besitzt dafür einen wärmeren Sound, aber vermittelt mit dem direkten und nicht auf Perfektionismus getrimmten Klang ein dunkleres Gefühl.

„The Eye Of Every Storm“ fühlt sich an als biete es mehr Platz, mehr Raum zum Atmen. Es explodiert nach außen hin zum Makrokosmos. Große weite Plätze im Inneren und Äußeren. „Given To The Rising“ wendet sich nach innen und implodiert in den Mikrokosmos. Meiner Meinung nach nicht dunkler, sondern schärfer, mit mehr Dornen und schroffen Kanten. Feuer und Eis bilden einen gegenläufigen Kreislauf miteinander, genauso wie die volle Bandbreite an menschlichen Gefühlen und unsere gemachten Erfahrungen. Auf jeder unseren Platten gibt es Elemente all dieser Dinge. Aber jede ist einzigartig in Ausdruck und Zielsetzung.

Der raue und natürliche Klang ist ein echtes Gegenteil zu all den überladenen und klinischen Produktionen dieser Tage. Steve Albini ist ja bekannt für diese Art von basisch klingenden Platten. Ist das der Grund dafür, dass ihr schon seit einigen Jahren mit ihm zusammenarbeitet?

Rockmusik ist dazu gedacht rau und natürlich zu sein. Alles andere ist eine Illusion. Wir haben über die letzten 21 Jahren unseren ganz eigenen einzigartigen Klang entwickelt und wir wollen einfach jemanden der ihn auf bestmögliche Art und Weise, sowie angenehm klingend, einfängt. Ohne Tricks, ohne Spielereien. Steve ist der Ultimative dafür. Er kommt von der alten Schule des Toningenieurwesens, bei der es dein Job ist genau das einzufangen was vor dir passiert. Egal was es ist. Er besitzt genug Erfahrung und Wissen, um sicherzustellen, dass nichts den Aufnahmeprozess stört. Er findet es moralisch verwerflich eine Meinung zur Musik zu haben, aber ist gleichzeitig sehr bestimmt darin, für jeden der sein Studio betritt das Beste zu geben. Er steckt damit seine Rolle klar ab.

Im Prinzip ist Steve also anstatt eines Produzenten ein klassischer Soundingenieur – oder doch etwas mehr?

Natürlich ist da auch mehr. Er kann das Lebendige und das Ausmaß eines Sounds im Raum auf das Aufnahmeband konservieren. Er ist ein großartiger Engineer und ein Freund, mit dem es uns viel Spaß macht Zeit zu verbringen. Wir vertrauen ihm darin, dass wir das, was wir ihm geben, auch als ausgezeichnete Aufnahme zurückbekommen. Einen so genannten Produktionsprozess gibt es bei uns nicht. Wir nehmen unsere Musik auf und mischen sie ab. Wir gehen sehr gut vorbereitet mit den fertig ausgearbeiteten Sounds ins Studio. Das was du hörst klingt genauso wie wir es auch in unserem Proberaum spielen. Wir haben die neue Platte in sechs Tagen aufgenommen und gemischt.

Was kannst Du mir zum Titel der Platte sagen, wer sind die dort erwähnten Aufsteigenden/Aufständischen („the rising“)?

Es bedeutet für jeden etwas anderes. Für mich bedeutet es, dass wenn man sich seinem höheren Willen ergibt, wenn man sich dem widmest was man tun möchte, wenn du bei dem was man tut eins mit seinem Inneren ist, man eine neue Stufe des Bewusstseins erklimmen kann und die nächste Phase seiner persönlichen Entwicklung erreicht.

Eure Musik klingt meiner Meinung nach sehr hypnotisch. Sie kann dich erheben, aber genauso niederschmettern. So könnte auch der Hörer mit dem Titel angesprochen sein.

Ja, sie ist hypnotisch. Dies ist das Ergebnis einer Art Trance. Deswegen ist die Tatsache, dass sie einen bewegen kann nicht überraschend. Nur die Art und Weise wie sie auf den Einzelnen wirkt, hängt davon ab was man ihr gibt.

Auf dem Albumcover ist eine bewehrte Pferdestatue zu sehen. Wo habt ihr dieses und die anderen Bilder im Booklet gefunden und warum wurden genau diese ausgewählt?

Josh Graham, der bereits seit sieben Jahren für uns als visueller Künstler arbeitet, hat seine Rolle innerhalb von Neurosis erweitert, um direkt beim Entstehen der Kunst anzusetzen. Er ist erstaunlich darin, seine Fähigkeiten als Designer genauso nach vorne zu bringen, wie wir es mit unseren Sounds tun. Sobald die neue Musik langsam Form annahm, schickten wir Josh bereits erste Demobänder. Er begann sofort an graphischen Ideen zu arbeiten und uns erste Ergebnisse zu schicken. Eines der bemerkenswertesten Bilder, die er vorschlug, war dieses mit dem Pferd. Seitdem ich von verschiedenen Aspekten der europäischen Folklore und Kultur wie besessen bin, habe ich natürlich sofort bemerkt, dass das Pferd vom Heldenplatz in Budapest stammt. Ich habe immer schon gedacht, dass diese Pferde unglaublich stark wirken. Es sind charakteristische Statuen, die nicht nur Stärke ausstrahlen, sondern auch eine sehr erdverbundene Vergangenheit. Als wir uns in der Band auf dieses zentrale Bild geeinigt hatten, haben wir Josh auf eine Reise nach Ungarn und die Tschechische Republik geschickt, um diese Statuen zu fotografieren und noch weitere zu finden. Er machte ein perfektes Foto davon, um es für das Cover zu verwenden. Er machte auch noch andere unglaubliche Bilder, die er aus dem ursprünglichen Kontext befreite und sie in den Kontext der Musik brachte. Im Booklet ist eine echte Landschaft abgebildet, die er ein neues Leben einhauchte. Nun lebt sie in der Musik.

Gibt es ein bestimmtes Konzept hinter den Texten, dem Albumtitel und dem Artwork?

Wir sind interessiert am Geist der Musik, an den emotionalen Auswirkungen und unserem persönliches Bedürfnis sie zu erzeugen. Nicht mehr und nicht weniger. Für uns ist das unsere Spiritualität. Wir machen keine Konzeptalben, aber unser gesamtes Leben als Erwachsene haben wir dem Entdecken dieser Sounds und dem Erforschen, wo sie uns persönlich und als Gruppe hinführt, gewidmet.

Ihr seht also euren Sound als Art spirituelle Erfahrung. Ist diese Spiritualität das was Dich antreibt als Künstler, aber auch als Konsument fremder Musik?

Wir suchen nach dem was uns antreibt. Etwas das Ehrlichkeit, Originalität und Herz besitzt. Wenn es mich auf einer bestimmten Ebene nicht bewegt oder es gekünstelt wirkt, dann ist es geistig ruiniert und inexistent für mich.

Ihr in der Band lebt mittlerweile sehr weit voneinander entfernt. Wie kommt also ein Neurosis-Album zustande? Ich denke die Zeit des gemeinsamen Jammens und Songschreibens im Proberaum wird es so nicht mehr geben.

Wir mussten auf gewisse Art und Weise immer mit einer Entfernungssituation umgehen. Aber Du hast recht, körperlich sind wir so weit auseinander, wie noch nie. Wir kommen noch immer zusammen, um der Musik Leben einzuhauchen. Wir reisen zwischen einander hin und her, um an Material zu arbeiten. Wir schicken uns auch Ideen gegenseitig zu und arbeiten in unseren Heimstudios daran. Wir machen das schon so lange und kommen deshalb mit einer Menge Material auf den Punkt, da wir unsere gegenseitigen Stärken und Schwächen kennen.

Über welchen Zeitraum ist „Given To The Rising“ mit dieser Arbeitsweise dann entstanden?

Die Ideen für etwas Neues kommen immer in der Sekunde mit der wir etwas anderes zum Abschluss bringen. Anfangs kommen sie langsam, dann entwickeln sie eine Eigendynamik, nehmen auf unzählige Wege Formen an und verlangen dann danach aufgenommen zu werden. Es dauerte Jahre das Ganze zu schreiben, sechs Tage es aufzunehmen.

Neurosis arbeiten schon sehr lange in einem konstanten Line-up. Ist diese Personenkonstellation die perfekte Gruppe um zusammen etwas zu erschaffen und warum ist das so?

Aufgrund unserer Hingabe zu jedem Einzelnen und zur Musik. Die meisten von uns haben ihr ganzes Erwachsenenleben zusammen verbracht und wir stellen unsere Großfamilie über alles andere. Unsere Hingabe zur Musik ist sehr persönlich und hat nichts mit geschäftlichen Dingen oder der Musikindustrie zu tun. Ich glaube das sorgt dafür, dass wir unverfälscht bleiben. Hier gibt es keinen Ego-Scheiß der uns

auseinander reißt.

Könnte die Band in dieser Form weiter existieren, wenn ein Mitglied sie verlassen würde?

Diese Musik wird solange existieren, bis einer von uns oder wir alle sterben. Wir nehmen es so hin, wie es uns gegeben ist.

„Given To The Rising“ ist das erste Neurosis-Album welches komplett über euer eigenes Label Neurot Recordings und nicht über ein Label wie Relapse vertrieben wird. Ist Neurot jetzt groß genug dafür oder gibt es auch andere Gründe?

„The Eye Of Every Storm“ wurde in den Staaten bereits über Neurot herausgebracht. Es war das erste Mal, dass wir die Gelegenheit dazu hatten, einen brandneuen Neurosis-Titel so abzuwickeln, der keine EP, ein Nebenprojekt oder ein Re-Release ist. Zu diesem Zeitpunkt fühlten wir, dass es besser ist sich zuerst auf unser eigenes Land zu konzentrieren und alles andere langsam aufzubauen. Dieses Mal waren wir bereit den Rest der Welt in Angriff zu nehmen. Mit exzellenten Leuten wie Southern in Europa hinter uns, war es uns endlich möglich es richtig zu tun. Wir haben kein Problem mit Relapse oder den guten Leuten mit denen wir das Glück hatten zusammenarbeiten zu dürfen, aber es war einfach an der Zeit es selbst zu machen.

Gab euch dieser Schritt ein neues Gefühl von Unabhängigkeit?

Natürlich. Es ist erfrischend Kunst, ein Stück Musik oder ein anderes Erzeugnis direkt vom Künstler oder unabhängigen Handwerkern beziehen zu können. Viel mehr der Industriezweige der Welt sollten zu ihren Wurzeln, dem Künstler-Direktvermarktungsmodell, zurückkehren.

Vor einigen Jahren habt ihr den üblichen Tourkreislauf durchbrochen und spielt nur noch ausgewählte Konzerte. Habt ihr den Spaß am Livespielen verloren oder beruht dies mehr auf den negativen Seiten des Tourlebens? Z.B. da man sehr lange von seinem zu Hause und seiner Familie getrennt ist.

Es sind viele Gründe. Als erstes haben wir nie Geld mit dem Musizieren verdient. Wir machen es aus Leidenschaft. Wir sind eine unabhängige Undergroundband. Auch wenn uns viel Hochachtung entgegen gebracht wird, heißt das noch lange nicht, dass mit dieser Hochachtung viel zu verdienen ist. Wir sind verantwortungsvolle Väter und Ehemänner und wir benötigten Jobs von denen wir sicher leben können, anstatt unsere Berufe komplett aufzugeben und die ganze Zeit auf Tour zu gehen. Als wir früher so viel tourten, war es schwer sich immer noch als produktive Menschen zu fühlen. Es gab nur zwei Stunden am Tag als wir uns gut fühlten und das war als wir auftraten. Jetzt sind wir kreativer als je zuvor und es kommt mehr Kunst und Musik aus uns heraus, als es je der Fall war. Jetzt spielen wir nur noch wo, wann und mit wem wir wollen und es Sinn für uns macht.

In den letzten Jahren wurden Neurosis immer wieder als Haupteinfluss einer neuen Generation von Bands wie Mastodon oder Isis genannt, welche mittlerweile sehr erfolgreich sind. Macht einen das stolz?

Streicheleinheiten fürs Ego fühlen sich natürlich gut an. Die Tatsache, dass jemand denkt unsere merkwürdige persönliche Ausdrucksweise sei wichtig genug um ein Einfluss zu sein, ist eine große Ehre.

Denkst Du ihr könnt auf irgendeine Art von dieser neuen Welle an Bands profitieren?

Wir waren immer schon sehr interessiert daran, ein paar Leute in der Masse zu finden, die nach etwas bestimmten suchen. Wenn dies einen von ihnen den Weg in unsere Richtung weist und sie fühlen und verstehen was wir tun, ist das eine Person mehr in unserer Mitte.

Ich bedanke mich für das ausführliche Interview, Steve. Die letzten Worte gehören, wie immer, Dir.

Die Musik spricht für sich selbst. Worte sind betrogene Gedanken.